In den letzten Tagen gingen die Wogen ziemlich hoch, weil wir uns für Leitplanken-Unterfahrschutz am Albispass einsetzen. Wir waren sehr überrascht von der Heftigkeit der Emotionen und Reaktionen, die uns schon entgegen schwappten bevor die Rede von der Todesstrafe war. In diversen Emails hiess es, der Albis sei zur Raserstrecke verkommen und der 20-jährige, der tödlich verunglückte, sei auch ein Raser gewesen (und damit selber schuld). Und natürlich wurde der IG Motorrad vorgeworfen, ihr Standpunkt, dass Leitplanken ohne Unterfahrschutz einer Todesstrafe für Motorradfahrer gleichkommen, sei polemisch und nicht nachvollziehbar. Mit diesem Blogbeitrag möchten wir versuchen, die Diskussion zu versachlichen. Schauen wir uns zunächst ganz nüchtern ein paar Tatsachen an.
Ein Freund des Schreibers dieses Beitrags vergass vor einigen Jahren beim Losfahren den Seitenständer einzuklappen. Er war mit seiner Chopper gemütlich, also langsam unterwegs. In der ersten Linkskurve setzte dann der Seitenständer auf und brachte das Motorrad heftig aus dem Gleichgewicht. Der Kollege prallte er mit dem linken Bein so stark gegen den Leitplanken-Stützpfosten, dass fünf Zentimeter seines Schienbeinknochens abgetrennt und auf die Strasse geschleudert wurden. Dazu brauchte es keine hohe Geschwindigkeit, wie wir alle wissen. Genauso gut hätte es seinen Halswirbel treffen können. Dann wäre er sofort tot gewesen – ohne zu rasen. Aber auch so war es schlimmg genug. Es dauerte zwei Jahre, bis er wieder gehen konnte, und fast hätte man ihm das Bein amputieren müssen. Wie gesagt, er war definitiv kein Raser, sondern fuhr immer sehr defensiv und vorsichtig. Die kurze Unachtsamkeit beim Losfahren büsste er mit einer schweren Verletzung, die nicht passiert wäre, hätte die Leitplanke einen Unterfahrschutz gehabt.
Man muss nicht rasen, um bei einem Unfall durch eine Leitplanke getötet oder verstümmelt zu werden. Auch eine Sekunde der Unachtsamkeit, ein Erschrecken über ein Reh am Strassenrand, ein Autofahrer, der die Kurve schneidet und einen zu einem unmöglichen Ausweichmanöver zwingt, usw. können einen Motorradfahrer in die Leitplanke schleudern, selbst wenn dieser nur langsam unterwegs ist. Das ist eine Tatsache.
Ebenso ist es eine Tatsache, dass Leitplanken eigentlich Leben retten sollten, wenn man von der Fahrbahn abkommt, und zwar egal aus welchem Grund!
Wir müssen deshalb die Diskussion über Unfall- und Todesursachen trennen, denn wenn es auch einem gemässigt fahrenden Motorradfahrer passieren kann, dass er in eine Leitplanke stürzt und getötet wird, dann ist jedem klar, dass die Leitplanke die Todesursache ist, während der Unfall selbst eigentlich hätte glimpflich ausgehen können.
Unfallursachen: Unachtsamkeit, ausgeklappte Seitenständer, andere Verkehrsteilnehmer, Rasen, usw.
Todesursachen: Kollision, unglücklicher Aufprall auf der Strasse, Herzinfarkt usw.
In der Diskussion um den Unfall vom 28. Juni werden Unfallursache und Todesursache verwechselt. Sollte der Junge wirklich ein Raser gewesen sein, dann wäre das Rasen die Unfallursache, aber nicht die Todesursache. Getötet wurde er durch eine falsch konstruierte Leitplanke ohne Unterfahrschutz. (Zu beachten: ob ein Unterfahrschutz ihn gerettet hätte, wissen wir nicht.) Es stellt sich deshalb durchaus die berechtigte Frage „Ist es richtig, Leitplanken so zu konstruieren, dass Raser bei einem Unfall getötet werden, wenn man sie auch so konstruieren könnte, dass deren Leben verschont wird?“ Kommt das nicht einer unterlassenen Hilfeleistung gleich? Und ist es so falsch, dann von einer Todesstrafe für Fahrfehler zu sprechen? (Wie gesagt, man muss kein Raser sein, um durch eine Leitplanke getötet zu werden.)
Weitere Fakten zum tödlichen Unfall vom 28. Juni am Albispass:
- Niemand weiss wirklich, ob der verunglückte 20-jährige ein Raser war. Diese Annahme beruht auf Aussagen von Anwohnern, die den Unfall gar nicht gesehen haben können, weil die Unfallstelle zu weit entfernt von jeder Siedlung ist. Wir wissen alle, wie schnell zwei Motorräder verwechselt werden, wenn man keine besonderen Kenntnisse von Maschinentypen hat.
- Wir wissen ebenso alle, dass Raser sich von fehlendem Unterfahrschutz nicht vom Rasen abhalten lassen – wie man ja am Albis sieht. Die Annahme, Leitplanken mit Unterfahrschutz würden Rasen fördern, ist deshalb falsch.
- Raser, die einen Unfall überleben, können daraus lernen und sich in Zukunft nicht nur mässigen, sondern auch präventiv tätig sein, indem sie andere Raser zur Mässigung anhalten. Der Autor kennt einen solchen Fall persönlich.
Wir richten deshalb an all die zynischen Kommentatoren die Frage, ob sie wirklich der Meinung sind, dass es richtig ist, dass Raser bei einem Unfall durch die Strasseninfrastruktur getötet werden. Oder sollten wir diese nicht so konstruieren, dass sie, eine zweite Chance bekommen?
Wenn man Leben retten kann, darf man das wirklich unterlassen, bloss weil die betroffene Person ein (vielleicht nur vorübergehender) Raser ist?
Wenn man die Wahl hat, eine Leitplanke so zu bauen, dass sie bei einem Unfall Leben rettet oder nimmt, und man entscheidet sich für das zweite, dann nimmt man bewusst den Tod von Personen in Kauf, die einen Fahrfehler begehen. Wenn ich bewusst in Kauf nehme, dass jemand für einen Fehler getötet wird, dann ist es nicht ganz abwegig, zu sagen, dass er mit dem Tod bestraft wird. Wir sagen ja auch „er hat seinen Fehler mit dem Leben bezahlt“…